01.02.2021

"Jede Form von Rassismus und menschenfeindlichem Gedankengut muss geächtet werden"

Interview mit Oswald Marschall

Oswald Marschall © Oswald MarschallOswald Marschall © Oswald Marschall
Anlässlich des Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01. haben wir mit Oswald Marschall, Politischer Referent beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, über Antiziganismus heute und die Auswirkungen der Pandemie auf antidemokratische Prozesse gesprochen.

1. Aufgrund der Corona-Pandemie fallen in diesem Jahr viele Veranstaltungen am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus aus oder finden digital statt. Besuche von Gedenkstätten oder Museen, die nationalsozialistische Verbrechen thematisieren, sind ebenfalls nicht möglich. Welche Auswirkungen haben die pandemiebedingten Einschränkungen auf das Erinnern und wie können wir dennoch in der Corona-Pandemie Gedenken und Erinnern angemessen und auch zeitgemäß gestalten?

Ob und wie sich die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf die Erinnerungsarbeit auswirken, kann ich im Moment schwer einschätzen. Natürlich haben die Beschränkungen auch einen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir am 27. Januar den Opfern des Holocaust gedenken. Virtuelle Gedenkveranstaltungen stellen aktuell eine sinnvolle Alternative zu den bisherigen Zeremonien dar. So hat beispielsweise auch der Interner LinkZentralrat Deutscher Sinti und Roma die Möglichkeit genutzt und eine digitale Veranstaltung durchgeführt. Darüber hinaus haben Veranstalter und Initiativen die noch öffentlich zugänglichen Erinnerungsorte besucht, um z.B. Kränze, Gestecke oder Blumen niederzulegen. Es können aber auch Interviews mit Betroffenengruppen oder Zeitzeugen organisiert und moderiert werden. Und im öffentlichen und privaten Bereich können Schweigeminuten abgehalten werden. Es gibt viele Formen des Gedenkens – wichtig ist, dass die Erinnerung an die Opfer immer würdevoll und angemessen ist.

2. Das BfDT arbeitet mit Personen/Initiativen zusammen, die sich zivilgesellschaftlich für mehr Demokratie und Toleranz einsetzen. Ein wichtiger Bestandteil dieses Engagements ist der Einsatz gegen Antisemitismus und Antiziganismus. Vor welchen spezifischen Herausforderungen steht das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Antisemitismus und Antiziganismus heute?

Grundsätzlich muss ich sagen, dass mich die gegenwärtigen Entwicklungen in der Welt sehr besorgen. Ich denke, man kann ohne Übertreibung sagen, dass weltweit populistische, nationalistische und/oder rechtsextreme Ideologien wieder erstarkt sind. Von diesen Bewegungen geht eine große Gefahr für freiheitlich-demokratische Gesellschaften aus. Die Corona-Pandemie hat diese Prozesse bedauerlicherweise noch verschärft. Das gegenwärtige gesellschaftliche Klima stellt einen fruchtbaren Nährboden für alle antidemokratischen, menschenfeindlichen oder verschwörerischen Ideen dar. Sie untergraben das Vertrauen in die bestehenden Institutionen und schüren diffuse Ängste. Die Erfahrungen in der Geschichte lehren uns, dass es in solchen Zeiten geboten ist, wachsam zu sein. In einer Welt, die schnelllebig, kompliziert und undurchsichtig ist, suchen viele Menschen nach einfachen Antworten. In diesem Kontext bewegen sich auch die Entwicklungen im Bereich Antisemitismus und Antiziganismus. Es ist daher umso wichtiger, dass sich Menschen mutig und couragiert solchen Tendenzen entgegensetzten. Dabei sollte jede Form von Rassismus und menschenfeindlichem Gedankengut von uns allen geächtet werden. Ganz wichtig scheint mir, dass Menschen, die solche Ideologien verbreiten, unbedingt Widerspruch erfahren müssen. Das bedeutet, dass wir bereit sein müssen, überall dort, wo solche Ideologien verbreitet werden, wie etwa in unserer Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, im Verein, in der Schule oder anderswo, zu widersprechen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass diejenigen, die eine solche Hetze betreiben, ihr Schweigen als Zuspruch fehldeuten und sich in der Folge vielleicht sogar noch ermutigt fühlen. Antisemitismus, Antiziganismus, Islamfeindlichkeit, Homophobie, Sexismus und andere Formen der Fremdenfeindlichkeit entschlossen entgegenzutreten, bedeutet gleichzeitig, auch für unsere gesellschaftlichen Grundwerte einzustehen. Wenn wir unsere freiheitlich-demokratische, pluralistische Gesellschaft in der Zukunft weiter erhalten wollen, müssen wir die Bereitschaft mitbringen, sie entsprechend zu verteidigen. Das ist eine wichtige gesamtgesellschaftliche Herausforderung und benötigt von uns allen viel Mut, Entschlossenheit und einen langen Atem.

3. Sinti und Roma erleben im Zuge der Pandemie vermehrt Diskriminierung. Als mehrere Familien eines Göttinger Hochhauskomplexes im Juni 2020 an Corona erkrankten, wurden Stigmatisierungen in der Berichterstattung verwendet. Welche Auswirkungen hat dies auf Ihre Arbeit und was können Einzelpersonen und Initiativen unternehmen, wenn sie solchen Inhalten im Alltag begegnen?

Die Mechanismen, die in dem beschriebenen Fall gegriffen haben, sind für uns nicht neu und haben mit der Pandemie selbst wenig zu tun. Die Ereignisse und die in dem Zusammenhang erfolgte Berichterstattung stellen vielmehr eine Fortführung einer langen antiziganistischen Erzähltradition dar. Sie kommt heute nur im neuen Gewand daher. Denn Sinti und Roma wurden schon in der Geschichte immer zu gesellschaftlichen Sündenböcken für Fehlentwicklungen gemacht. In der Vergangenheit galten sie als Überträger von Krankheiten wie z.B. Pest oder Cholera und heute ist es Corona. Insoweit überrascht mich nicht diese Berichterstattung nicht, denn sie steht ganz eindeutig in einer antiziganistischen Tradition. Ich wiederhole mich, aber auch hier ist es wichtig, solche Berichterstattungen nicht unkommentiert im Raum stehen zu lassen. Auch hier ist ein hörbarer Widerspruch ein geeignetes Mittel, um solchen Tendenzen entgegenzutreten. Dies kann erfolgen durch Beschwerden an Redaktionen, Leserbriefe und/oder durch entsprechende Kommentare in Internetforen. Wichtig ist auch, dass dies nicht nur von uns Betroffenen erfolgt, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen wird. Widerspruch stellt meines Erachtens eine sinnvolle und sehr effektive Gegenstrategie im Einsatz gegen Antiziganismus dar.