22.09.2016
Interview mit Pfarrer Meurer
"Wenn wir Religion isoliert betrachten, machen wir einen folgenschweren Fehler"
Franz Meurer ist seit 1992 Pfarrer der Gemeinden St. Elisabeth und St. Theodor im Kölner Stadtteil Höhenberg-Vingst, das als Problemviertel gilt. Seit über 15 Jahren engagiert er sich in vielfältiger Art und Weise, entwickelte ein umfangreiches Netzwerk von sozialen Initiativen und Projekten und ist damit zu einer Institution in Köln geworden.
Vom Gabelstaplerführerschein für Arbeitssuchende, über das Anpflanzen von über 1.000 Blumenbeeten, Ferienfreizeiten für Kinder, bis hin zu Kleiderkammern und Suppenküchen für bedürftige Anwohner/-innen: Er steht für Veränderung und Optimismus, setzt sich für Geflüchtete und ein friedliches Miteinander verschiedener Religionen ein. Mit seinen unkonventionellen Methoden sorgt er immer wieder für Auf- und Gegenwind, nicht zuletzt als er für den Bau der Kölner Großmoschee eine Kollekte sammelte und die Antibabypille verteilte.
Sie sind nun schon eine Weile Pfarrer im Kölner Stadtteil Höhenberg-Vingst. Wie nehmen Sie Ihre Arbeit dort wahr?
Höhenberg-Vingst ist ein Armenviertel, hier sind 28 Prozent überschuldet. In diesem Stadtteil als Pfarrer zu arbeiten empfinde ich dennoch als eine dankbare Aufgabe. Wir haben ein schönes Viertel! Man kann hier im Viertel deutlich machen, dass wenn alle Menschen mitmachen, die Schere von reich und arm geschlossen werden kann und alle am Wohlstand teilhaben können.
Was ist das Wichtigste, um ein friedliches Miteinander zu schaffen, gerade auch in Stadtbezirken mit vielen kulturellen Unterschieden?
Das Wichtigste ist, dass jeder Arbeit hat; auch die 7,8 Millionen funktionalen Analphabeten. Zudem sollte man Dinge gemeinsam unternehmen und sich gegenseitig respektieren. Dennoch, Toleranz allein ist viel zu wenig. Man muss sich gegenseitig nützen und Freude daran haben, dass es den Anderen gibt und dass es ihm gut geht. Das bedeutet, dass ich dem stellvertretenden Imam natürlich eine Wohnung besorge. Weil er Frieden ins Viertel bringt. Das bedeutet auch, dass wir für die jesidische Gemeinde in einem ehemaligen Kiosk einen Treffpunkt eingerichtet haben. Es geht um ein Miteinander der Menschen und der Religionen. Dann kommt Toleranz von ganz allein.
Wenn wir dabei Religion isoliert betrachten, machen wir einen ganz folgenschweren Fehler. Es gibt keinen Menschen, so Nobelpreisträger Amartya Sen, der nur eine Identität hat. Man ist zum Beispiel Muslim, Bienenzüchter, Zeitungsleser, Familienvater, Fußballfan und Hobbykoch. Den Arzt der Windpocken in New York untersucht, verbindet doch mit dem Arzt, der in Neu Delhi Windpocken untersucht unglaublich viel. In dem Fall ist es egal ob man Christ oder Muslim ist.
Wie engagieren Sie sich ganz konkret?
Die Leute wissen, ich stehe immer auf der Seite der kleinen Leute! Ich besorge Drogenabhängigen Arbeitsplätze und ich putze Toiletten. Man muss mit anpacken! Ich bin der Meinung, dass manchmal zu viel diskutiert wird. Man muss Toleranz fördern, aber nicht durch reden. Fensterreden, in denen nichts dahintersteht, finde ich falsch.
Was für eine Rolle spielt Religion für Sie in Bezug auf Ihr gesellschaftliches Engagement?
Religion ist das gefährlichste, was es gibt. Wenn du willst, dass ein guter Mensch etwas Böses tut, dann führe ihn zur Religion. Man muss sich, auch wenn man nicht gläubig ist, um die Religion kümmern. Es geht darum, gute Religion zu schaffen. In der Religionsforschung wird angenommen, dass der „Exodus“, das Herausführen des Volkes Israel aus Ägypten, die entscheidende Erfahrung des Volkes Israel war und gleichzeitig der Weg der christlichen Seele zur Ausrichtung auf einen Gott. Entscheidend ist also, dass man unterwegs ist. Man ist nie am Ziel.
Zum Beispiel der Baba Scheich, das geistliche Oberhaupt der Jesiden, hat gezeigt, wie man auf diesem Weg durch die Auslegung der Religion Positives bewirken kann, indem er jesidische Kinder und Frauen, die in den Händen des „Islamischen Staates“ Gewalt erfahren haben, ausdrücklich segnet und sagt, sie müssen besonders geachtet werden. Zuvor galten Frauen, die mit einem Nicht-Jesiden Geschlechtsverkehr hatten, als beschmutzt.
Inwieweit zählt die Stärkung demokratischer Prozesse zu den heutigen Aufgaben der Kirche?
Die Kirche ist an der Basis demokratisch verfasst. Es wird alles abgestimmt und die einzelnen Gruppen verwalten sich vollständig selbst. Während wir gerade sprechen, bekommen über 500 Leute Lebensmittel in der Lebensmittelausgabe unserer Kirche. Organisiert wird das von einem Lokomotivführer, wenn er frei hat. Das ist Demokratie pur! Demokratie ist für mich nicht, über andere zu bestimmen, sondern Demokratie ist Solidarität, Bürokratie und vor allem Rechtssicherheit, sodass auch die armen Leute wissen, dass sie vor dem Gesetz gleich behandelt werden.
Wie ermutigen Sie junge Menschen dazu, sich mehr zu engagieren?
Ermutigen heißt für mich Orte und Räume der Begegnung schaffen. Kinder brauche Räume, Regeln, Rituale und das gleiche brauchen Erwachsene auch. Sie müssen sich bewegen und etwas unternehmen können. Dabei müssen Regeln deutlich werden, die klarstellen: So ist das hier bei uns. Wenn du in der Kindertagesstätte Verantwortung übernimmst für den Schlüssel, dann musst du auch abschließen.