12.07.2016

"Gründe der Flucht begreifbar machen"

BfDT-Botschafter Antonio Umberto Riccò über die aktuelle Geflüchtetenthematik und seine szenische Lesung „Ein Morgen vor Lampedusa“

Genaue Zahlen sind nicht bekannt, doch viele tausende Menschen sterben auf ihren Fluchtwegen über das Mittelmeer. Auch das Bootsunglück vor der italienischen Insel Lampedusa 2013 zeigte, wie riskant eine Flucht nach Europa ist. Der italienische Autor Antonio Umberto Riccò hat ein Skript zur Lampedusa-Katastrophe verfasst – entstanden ist eine szenische Lesung, ein erschütternder Text, der unterschiedliche Perspektiven auf die Katastrophe eröffnet, um das Schicksal und die Not von Geflüchteten zu thematisieren.

Interview mit Antonio Umberto Riccò



Lesung im Erich-Kästner-Gymnasium Laatzen (Foto: www.lampedusa-hannover.de)Lesung im Erich-Kästner-Gymnasium Laatzen (Foto: www.lampedusa-hannover.de)
Gibt es ein ausschlaggebendes Ereignis, welches Sie dazu bewegt hat die szenische Lesung „Ein Morgen vor Lampedusa“ zu verfassen?

Am 3. Oktober 2013 kenterte ein Flüchtlingsboot unmittelbar vor der Küste der Insel Lampedusa, 366 Menschen ertranken. Dieses unfassbare Ereignis war für mich entscheidend, mich auf die Suche nach Informationen zu machen. Damit diese Tragödie nicht vergessen wird, entstand daraus der Wille mit einer Gruppe von Freunden und vier Flüchtlingsorganisationen ein Projekt zu starten. Die Wahl fiel schnell auf die Planung einer szenischen Lesung mit Bildern und Musik, die Francesco Impastato komponierte.

Was ist der Inhalt der Lesung? Aus welchen Texten setzt sie sich zusammen?

Vorwiegend erzählt die Lesung davon, was geschah – mit den Worten der Protagonisten. Flüchtlinge, Fischer, Inselbewohner, Touristen, aber auch Vertreter der Behörden erzählten der nationalen und internationalen Presse unmittelbar nach der Katastrophe was sie erlebt hatten. Diese Aussagen habe ich gesammelt, verglichen, überprüft und mit dokumentarischem Material ergänzt. Sie geben schonungslose und unterschiedliche Perspektiven des Geschehens wieder. Im Vordergrund steht, den Opfern ein Gesicht zu geben, sie nicht mehr nur als Zahlen wahrzunehmen, sondern als Menschen. Auch die Humanität der Retter, die unmittelbar mit dem Tod konfrontiert wurden, kommt in der Lesung deutlich hervor. Dennoch bleiben viele weitere Fragen offen, die damit einhergehen. Die europäische Flüchtlingspolitik, die schwierige Lage der Mittelmeerländer, das Verhalten Italiens und Deutschlands, auch sie werden thematisiert.

Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig weiterhin auf die Flüchtlingsproblematik aufmerksam zu machen?

Europa scheint sich oft nur mit sich selbst zu beschäftigen. Wir Europäer neigen dazu, unsere Bedürfnisse wichtiger zu nehmen als die anderer Menschen. Diese Haltung führt zu mehr Egoismus, auch innerhalb Europas. Die Folgen sind Nationalismus, Hass, Gewalt und die Stärkung von populistischen Parteien, die die Demokratie gefährden. Es geht also nicht nur um die Flüchtlinge und um ihr Recht auf ein Leben in Frieden, sondern auch um unsere Demokratie und die Werte, die unsere Gesellschaft mühsam erarbeitet hat. Wir brauchen sie heutzutage dringend: Solidarität, Weltoffenheit, Gerechtigkeit. Deswegen halte ich es für wichtig, die Geschichten der Flüchtlinge zu erzählen und damit ihre Gründe der Flucht und ihren gefährlichen Weg für uns begreifbar zu machen.

Lesung in der Neuen Kirche Emden mit Schülerinnen des Max-Windmüller-Gymnasium (Foto: www.lampedusa-hannover.de)Lesung in der Neuen Kirche Emden mit Schülerinnen des Max-Windmüller-Gymnasium (Foto: www.lampedusa-hannover.de)
Was sind Ihre konkreten Ziele und wie haben Sie sie erreicht?

Eines der Ziele unserer szenischen Lesung ist die Unterstützung von Flüchtlingsprojekten. Bei den etwa 200 Veranstaltungen erhielten 135 Flüchtlingsinitiativen fast 60.000 Euro an Spenden. Noch wichtiger ist es uns die Menschen zu informieren und zu sensibilisieren. Nie hätten wir vor drei Jahren gedacht, dass die Lesung über 15.000 Zuschauer/- innen erreichen würde! Das war möglich, weil das Projekt so gestaltet ist, dass die Lesung leicht umzusetzen ist. Es gab auch Theater – wie in Hannover und in Dresden –, die unsere Lesung präsentiert haben. In der Regel waren es Kirchengemeinden, Schulen, Gewerkschaften oder Vereine. Mehr als 800 Laien haben bei den Lesungen mitgewirkt. Wir haben sie beraten und ihnen die Materialien kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Hilfe, die wir in den drei Jahren von fast dreißig Unterstützern erhalten haben – darunter zwei Niedersächsische Ministerien, die Lotto Sport-Stiftung, der Caritasverband, die Stadt und die Region Hannover – haben wir einfach weiter gegeben.

Wie geht es weiter? Was kommt nach der 200. Lesung?

Im November endet das Projekt. Davor finden noch mehrere Lesungen statt. Eine ganz besondere Veranstaltung wird mit unserer Beteiligung am Jahrestag der Tragödie in der Kirche von Lampedusa stattfinden. Wahrscheinlich werden auch einige Überlebende und ihre Retter, die wir im Text zitieren, dabei sein. Wir betrachten diese Lesung als eine Gelegenheit, unsere Anerkennung gegenüber den Inselbewohnern zum Ausdruck zu bringen. Das Meer – für die Insel gleichzeitig Lebensspender und Todbringer – hat sie in Jahrhunderten gelehrt, dass Menschen in Not Hilfe erhalten müssen. Diese Aufgabe haben sie auch am 3. Oktober 2013 übernommen, stellvertretend für alle Europäer. Und sie haben einen Preis dafür bezahlt: Durch die immer wiederkehrenden Flüchtlingsdramen ist die Touristenzahl stark gesunken.

Wie könnte Ihr nächstes Projekt aussehen? Haben Sie derzeit etwas Konkretes in Planung?

Gerne würde ich eine andere wahre Geschichte erzählen, die verdeutlichen kann, dass der lange Weg der Flüchtlinge nicht mit ihrer Ankunft in Europa endet. Am Beispiel eines Minderjährigen aus Afghanistan möchte ich berichten, als wie beschwerlich es die jungen Flüchtlinge danach erleben, wie wichtig und mühsam Integration ist und wie sie zwischen Solidarität und Ablehnung ihre Rolle in der neuen Gesellschaft finden: Es sollte eine poetisch und trotzdem der Realität nahe Erzählung sein und im Rahmen eines ähnlichen ehrenamtlichen Projektes Verbreitung finden.

Für seinen beeindruckenden ehrenamtlichen Einsatz zeichnete das Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt (BfDT) Herrn Riccò am 23. Mai 2016 beim Festakt zur Feier des Tages des Grundgesetzes als Botschafter für Demokratie und Toleranz aus.

Einen Film über Antonio Umberto Riccò als Botschafter für Demokratie und Toleranz 2016 finden Sie Interner Linkhier.

Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter Interner Linkwww.lampedusa-hannover.de.