06.04.2011
Entstehung eines Denk-mals
- Menschen, die man vergisst, sterben ein zweites Mal (jüdisches Sprichwort) -Von Christa Niclasen (Löcknitz-Grundschule)
Das Bayerische Viertel in Berlin-Schöneberg wurde zu Beginn des Jahrhunderts auch „Jüdische Schweiz“ genannt, denn es war geprägt von jüdischer Kultur. Anfang der dreißiger Jahre lebten ca. 16.000 Juden und Jüdinnen im Umkreis der Löcknitz-Grundschule. Auf dem heutigen Gelände der Schule wurde 1910 die jüdische Synagoge Münchener Straße 37 eingeweiht. Sie bildete den Mittelpunkt jüdischen Lebens im Bayerischen Viertel. Die Synagoge wurde am 9. November 1938 kaum beschädigt, fiel aber den Bombenangriffen während des Zweiten Weltkrieges weitgehend zum Opfer und wurde 1956 endgültig abgerissen. Heute ist der Grundriss der Synagoge auf dem Schulhof sichtbar gemacht.
Seit 1994 entsteht auf dem Schulgrundstück der Löcknitz Grundschule ein ständig wachsendes „Denk-mal“ für jüdische Bürger des Bezirks Schöneberg, die in Konzentrationslagern gewaltsam zu Tode gekommen sind. Das Kunstamt stellt den Schülerinnen und Schülern der 6. Klassen Listen aller ehemaligen jüdischen Bürger des Bezirks nach Straßen und Hausnummern geordnet zur Verfügung. Die Kinder suchen sich aus diesen Listen die Namen von Bürgern heraus, zu denen sie spontan eine besondere Beziehung aufbauen können: nach dem Alter, dem Geburtstag, dem Namen oder der Adresse. Sie sagen dann: „Ich denke an ..., weil er genauso hieß wie ich und im Konzentrationslager in Auschwitz umkam“, oder auch „Ich denke an …, weil sie am gleichen Tag wie ich Geburtstag hat.“ Die Schüler und Schülerinnen beschriften einen Denk-Stein mit diesem Namen und fügen ihn in einer jährlichen Feierstunde in Anwesenheit ihrer Eltern, Zeitzeugen und weiteren Gästen der Denksteinsammlung hinzu.
Jedes Jahr äußern die Schülerinnen und Schüler der 6. Klassen erneut den Wunsch, das Denk-mal mit „ihren“ Denk-Steinen zu erweitern. Sie entwickeln bei der Beschäftigung mit den Listen des Kunstamtes großes Interesse und eine hohe Sensibilität, gerade auch gegenüber ihren ausländischen Mitschülern, die selbstverständlich ebenfalls an der Aktion teilnehmen. Viele Schüler und Schülerinnen versuchen in den entsprechenden Häusern noch etwas über „ihren jüdischen Bürger“ zu erfahren. Haben sie Erfolg, berichten sie mit Engagement und oft auch offener Bestürzung von den Lebensgeschichten, die sie gehört haben. Als zusätzliche Idee der Schülerinnen und Schüler entstand 1996 eine ständige Ausstellung im Schulgebäude. Sie zeigt die Fotos von Wohnhäusern im Schulbezirk, in denen jüdische Mitbürger gelebt haben. Ein Modell der Synagoge wurde gebaut, der Innenraum der Synagoge im Schulhaus nachempfunden.
An den jährlichen stattfindenden Denksteinniederlegungen der 6. Klassen nehmen die Eltern, der Bezirksbürgermeister, Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler der 5. Klassen und aus anderen Schulen, Zeitzeugen und Menschen aus dem öffentlichen Leben teil. Das Projekt findet zunehmend die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft, des Jüdischen Museums Berlin durch Reisegruppen, der Presse und Institutionen, auch über die Landesgrenzen hinaus. Im Yad Vashem/Israel, im Anne-Frank-Haus/Amsterdam, im Goetheinstitut Bonn bzw. Kapstadt/Südafrika, Korea, China sowie im Internet unter

Unser Ziel ist es, die Kinder unserer Schule zur Akzeptanz und Toleranz von Minderheiten, zum gewaltfreien Umgang miteinander und zu demokratischem Handeln und Denken zu erziehen. Kinder aus 23 Nationen lernen hier friedlich miteinander. Gewalttätige Auseinandersetzungen, Mobbing, Ausgrenzungen und Intoleranz spielen in unserem Schulleben so gut wie keine Rolle mehr. Unsere Schülerinnen und Schüler nicht-deutscher Herkunft sind völlig integriert und akzeptiert, Diskriminierungen sind uns unbekannt. Zunehmend hat die Schule Zulauf von jüdischen Kindern.
Am 23. Juni 2011 um 10.30 Uhr wird der 900. Stein dem Denk-mal hinzugefügt werden.
Kontakt:
Christa Niclasen, Löcknitz-Grundschule, Bezirk Tempelhof-Schöneberg,
Berchtesgadener Straße 10-11, 10779 Berlin
Tel: +49-30-90277 71 64 Fax: +49-30-90277 43 15
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