01.10.2009
Überlebensgeschichten verfolgter Sinti und Roma
Literaturtipp


Der Roman „Mano. Der Junge der nicht wusste, wo er war“ ist2008 im Hanser-Verlag erschienen. Die Berliner Autorin Anja Tuckermann war während ihrer Arbeiten am Buch „Denk nicht, wir bleiben hier – Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner“ auf dessen Verwandten Franz-Josef Höllenreiner, genannt Mano, gestoßen. Mano hatte im Alter von elf Jahren drei Konzentrationslager, unter anderem Auschwitz und Ravensbrück, überlebt und kam nach der Befreiung über Umwege nach Frankreich. „Elise nahm ihn zur Seite und flüsterte: `Du bist nicht deutsch, du bist jetzt Franzose! Du hast die Sprache vergessen und alles! Du weißt nur noch deinen Namen und dein Alter!`“ Das sind die wenigen Sätze, die im Buch den Beginn einer wahren Odyssey markieren. Der Junge Mano steht von nun am im Zwiespalt, sich nicht erkennen geben zu können. In seiner Gedankenwelt baut sich ein Dilemma auf: Wenn er sich als Deutscher bekennt, kann er nicht bei seinen Rettern bleiben. Bekennt er sich nicht, wird er seine Verwandten, die möglicherweise überlebt haben, niemals wiedersehen. Er findet viele Menschen, die sich um ihn kümmern und ihm helfen wollen, die vergangenen Schreckensjahre zu vergessen. Doch zu sehr quält ihn die Frage, ob seine Familie noch lebt.
Tuckermann entscheidet sich in der Bearbeitung der wahren Geschichte des Sinti-Jungen Mano für den Roman. Sprache und Form sind deshalb literarisch gewählt. Manos Gedanken und Gefühle werden dem Leser in eindringlichen inneren Monologen vermittelt. Nur hier erfährt der Leser immer wieder auch bruchstückhaft von den furchtbaren Erlebnissen, die der Junge während der Zeit in den Konzentrationslagern machen musste. Die Rahmenhandlung begleitet Mano auf den verschiedenen Stationen seiner Rettung vom Heimkehrerbüro bis zu einem französischen Ehepaar, das ihn schließlich adoptieren möchte. Bei diesem einen Erzählstrang bleibt die Autorin aber nicht: Um die Authentizität zu steigern, werden Fotographien dem Text vor- und nachgestellt und Dokumente eingestreut. Zeitzeugenberichte von handelnden Personen werfen rückblickend verschiedene Sichtweisen auf die Handlung. So wirkt der Roman streckenweise fast kriminologisch, besonders wenn sich die Suche nach Manos Angehörigen gegen Ende des Buches immer mehr ihrem Ziel nähert. Die auf die heutige Alltagssprache zugeschnittene Wortwahl lässt allerdings erkennen, dass hier in erster Linie eine Geschichte erzählt wird, die zur Identifikation und zur Anteilnahme mit dem Protagonisten einlädt.
„Das Schweigen wird gebrochen. Erinnerungen an den Nationalsozialismus“ ist aus der Zusammenarbeit zwischen der Sintezza Krimhilde Malinowski und dem Autor und Historiker Norbert Aas entstanden. Erschienen ist das Buch in der Schriftenreihe des Bayrischen Landesverbands Deutscher Sinti und Roma. Aus Gesprächen, Aufzeichnungen und Dokumenten hat Aas die Lebensgeschichte der Krimhilde Malinowski nachgezeichnet, die im Alter von 14 Jahren von Stettin nach Auschwitz deportiert wurde und dort fast ihre gesamte Familie verlor. Die Stationen ihres Leidens und der Verfolgung werden jeweils durch Aas eingeleitet und kommentiert. Durch sein chronologisches Vorgehen lässt sich die Geschichte und Ausbreitung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen nachvollziehen, was zusammen mit den abgebildeten Originaldokumenten den historischen Wert des Buches ausmacht. Dabei dienen Malinowskis wortwörtliche Erinnerungen aber nicht zur Veranschaulichung der Historie, sondern andersherum sind sie mit ihrer Persönlichkeit und Authentizität der Kern des Buches. Der Zeitzeugenbericht hört auch nicht mit Ende des Krieges auf. Malinowski und Aas führen den Leser auch durch die Wirren der Nachkriegszeit, in der Sinti und Roma immer noch und immer wieder um Anerkennung kämpfen mussten.
„Mano“, obwohl bei Hanser Kinderbuch erschienen, ist nicht nur ein Jugendroman. Beide Bücher sind für ältere Jugendliche und für Erwachsene zu empfehlen. Besonders bieten sie sich für die Unterstützung im Geschichtsunterricht ab der 9. Klasse an, um den Jugendlichen den Völkermord unter den Nationalsozialisten, seinen Horror und seine Folgen nahezubringen. Interessant und aufschlussreich wäre sicher auch der Vergleich der beiden Bücher hinsichtlich ihres unterschiedlichen Umgangs mit den persönlichen Erinnerungen und dem historischem Material.

