20.06.2016

Botschafter für Demokratie und Toleranz 2016: MaDonna Mädchenkult.Ur e.V. im Gespräch

Gabriele Heinemann und Sevil Yildirim sind die verantwortlichen Mitarbeiterinnen im MaDonna-Mädchentreff. Sie möchten jungen Migrantinnen geschützte Rückzugsorte, Beratungs- und Entfaltungsräume ermöglichen. Der Verein „MaDonna Mädchenkult.Ur e.V.“ setzt sich seit 1981 in einem der schwierigsten Kieze Berlins, dem Rollbergviertel in Neukölln, für Mädchen und junge Frauen ein.

Interview mit Gabriele Heinemann und Sevil Yildirim



Fahnenaktion gegen Gewalt an Frauen (Foto: MaDonna Mädchenkult.Ur.e.V.)Fahnenaktion gegen Gewalt an Frauen (Foto: MaDonna Mädchenkult.Ur.e.V.)
Warum wurde der Verein MaDonna Mädchenkult.Ur e.V. gegründet?
Der MaDonna-Mädchentreff wurde 1981 als Beitrag zur Gleichberechtigung in der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere der Kinder- und Jugendarbeit gegründet. Damals waren über 90 % der Besucher Jungs. Außerdem wollten wir Schutz vor Gewalt geben und Freiräume bieten, damit die Mädchen sich selbst erproben und neu kennenlernen können.

Warum ist ein solcher Verein gerade in Berlin Neukölln wichtig?

In unser Viertel zogen in den 80er und 90er Jahren viele aus dem libanesischen Bürgerkrieg geflüchtete Familien und Familien aus ländlichen Gebieten im Osten der Türkei. Ihre Familienvorstellungen waren sehr patriarchalisch. Die Ehre der Familie war viel wichtiger als die Bildung der Töchter. Die Mädchen mussten früh heiraten, zwischen 12 und 16 Jahren, obwohl das in Deutschland nicht erlaubt war. Hin und wieder kam es zu Ehrenmorden. Wertvorstellungen, dass eine selbstbestimmt handelnde Frau eine Schlampe ist, waren gang und gäbe.

Was sind die Zielsetzungen des Vereins und mit welchen Projekten unterstützen Sie die Mädchen ganz konkret?
Wir stärken zunächst einmal den Bildungserfolg der Mädchen durch tägliche Hausaufgabenhilfe und Nachhilfe. So können wir die Familien dafür gewinnen, dass sie ihren Töchtern erlauben zu uns zu kommen. Parallel gibt es selbstbestimmte Freizeitgestaltung. Was wir machen, hängt von den Wünschen der Mädchen und unseren finanziellen Möglichkeiten ab. Begleitet werden muss beides von intensiver Elternarbeit, damit diese einen Sinn in der Selbständigkeit ihrer Töchter erkennen. Stundenlang spricht und verhandelt Sevil mit den Eltern, damit die Tochter beispielsweise an einem Ausflug teilnehmen kann. Langsam über die Jahre entwickelt sich so Vertrauen zu den Familien. Verbindlich bieten wir den Mädchen und Frauen außerdem Hilfe bei Gewalt an. Dabei geht es geht um Gewalt in der Familie, häusliche Gewalt und Schutz vor zwanghaft arrangierten Ehen. Gleichzeitig bieten wir Jugendlichen die Vorbildfunktionen einnehmen und Müttern, die sich gegen Gewalt positionieren, gegen eine Aufwandsentschädigung, Jobs an. Das stärkt ihre Position und ihr Ansehen im Kiez. Außerdem machen wir gemeinsame Angebote für Mädchen und Jungen: Zum Beispiel ein Projekt der aufsuchenden Jugendarbeit und Vernetzung von Gewaltprävention sowie ein großes Sommerferienprogramm für 300 Kinder täglich. Beide Projekte werden von Sevil geleitet. Es hat gedauert, bis manche eine junge weibliche Leiterin akzeptiert haben, aber inzwischen genießen alle Teilnehmenden die offene und partnerschaftliche Atmosphäre. Auch hier arbeiten viele Peerhelper/-innen (Jugendliche und Mütter) mit, die sich damit auch öffentlich zu Gleichberechtigung und Teilhabe bekennen.

Gemeinsame Halloween-Feier (Foto: MaDonna Mädchenkult.Ur.e.V.)Gemeinsame Halloween-Feier (Foto: MaDonna Mädchenkult.Ur.e.V.)
Mit welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten sind Sie bei Ihrer Arbeit konfrontiert?
In unserem Viertel sind es nicht mehr allein familiäre Traditionen, die die Mädchen und jungen Frauen einschränken. Islamismus und Fundamentalismus breiten sich aus. Sie ziehen nicht wenige Jugendliche an, denn sie bieten Aufwertung, Anerkennung und Wertschätzung und einfache Antworten. Einige Mädchen des Mädchentreffs sind in den Bann eines salafistischen Frauenvereins geraten. Es hat gedauert, die meisten von ihnen für ein demokratisches Miteinander zurück zu gewinnen. Die, die wieder ausgestiegen sind, waren letztlich durch die Mädchenpower, die sie bei uns kennengelernt haben und durch das intensive Ringen ihrer Eltern, geschützt. Es muss viel mehr für Bildung, demokratische Teilhabe und Toleranz der ganz verschiedenen Jugendlichen und Familien getan werden.

Welche weiteren Projekte sind für die Zukunft geplant?
Vernetzte Gewaltprävention, aufsuchende Jugendarbeit, Elternarbeit, Peer-Helperinnen-Jobs, inspirierende Freizeitgestaltung und Bildungsförderung bleiben zentral. Wir suchen gerade vermehrt Freiwillige für Hausaufgabenhilfe und Nachhilfe. Und wir würden gerne mehr Bildungsreisen und Ausflüge machen. Wenn jemand Tipps hat, wie wir damit weiterkommen, vor allem finanziell und längerfristig, lassen Sie es uns wissen. Die älteren Jugendlichen wollen am nächsten Interner LinkJugendkongress des BfDT teilnehmen. Und last but not least: Hoffentlich gibt es bald eine geheime Zuflucht für junge Paare. Es gibt Frauenhäuser, aber keinen Ort, wo Paare verbindlich und sicher neu beginnen können. Immer wieder kommen Paare zu uns, deren Eltern diese Liebe nicht nur nicht akzeptieren, sondern die Beteiligten schwer bedrohen. Bisher können wir diesen Paaren nur privat und mit Spenden helfen. Viele Jugendliche wissen außerdem nicht, dass Hilfe möglich ist; dann heiraten sie doch wieder einen Cousin, so wie die Eltern und Großeltern es wollen.

Für ihren beeindruckenden ehrenamtlichen Einsatz zeichnete das Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt (BfDT) „MaDonna Mädchenkult.Ur e.V.“ am 23. Mai 2016 beim Festakt zur Feier des Tages des Grundgesetzes als Botschafter für Demokratie und Toleranz aus.


Einen Film über „MaDonna Mädchenkult.Ur e.V.“ als Botschafter für Demokratie und Toleranz 2016 finden Sie Interner Linkhier.