20.01.2011
Literaturtipp: „Islamfeindlichkeit“ und „Islamverherrlichung“


Denn wer sich vom Umfang der beiden sich ergänzenden Bände nicht abschrecken lässt, findet darin, was die öffentliche Diskussion und ein Großteil der aktuellen Publikationen nicht haben: Sachlichkeit und Ausgewogenheit. Dazu trägt gerade auch die unglaubliche Fülle an Beiträgen bei. Insgesamt 57 Aufsätze von fast 60 Autoren aus zwölf verschiedenen Fachrichtungen sichern den Sammelbänden Wissens- und Meinungspluralität. Die berechtigte Befürchtung, als Leser in dieser wahren Flut an Informationen unterzugehen, bewahrheitet sich aber nicht. Die Beiträge sind nach einer klaren Gliederung (Grundlagen – Belege – Beispiele) geordnet, das Autorenverzeichnis am Ende jeden Bandes hilft dabei, sich zu orientieren und den Aufsatz zu finden, der individuell und aktuell wichtig ist. Gerade Menschen, die sich ehrenamtlich oder beruflich mit dem Thema Integration beschäftigen, erhalten so schnell und einfach je nach ihrem Interessengebiet Informationen zu Teilbereichen der Debatte und einen guten Überblick über ihre Schwerpunkte. Auch der immer wieder betonte wissenschaftliche Anspruch und die Genauigkeit sollten das nicht-akademische Publikum nicht von der Lektüre abhalten. Im Gegenteil, denn durch die betont sachlichen Belege lassen sich viele der Argumente auch auf alltägliche Konflikte übertragen – und können dort dazu beitragen, dass emotional aufgeladene Situationen entschärft und Lösungen einfacher gefunden werden.
Unter den einzelnen Beiträgen kommen dabei echte Perlen zu Tage. Fast humoristisch liest sich der Aufsatz „Zu schwach, um Fremdes zu ertragen?“ des Architekten und Soziologen Salomon Korn. Darin bezieht er die aktuelle Minarettdebatte auf orientalische Bautraditionen in Europa, wie Zwiebeldächer auf barocken Kirchen, die heute längst nicht mehr als fremd wahrgenommen werden. Korn führt gekonnt den Wandlungsprozess und die Bedingtheit jeder Kultur vor. Die Angst vor dem Fremden zeigt dann ihr wahres Gesicht: die Unsicherheit mit der eigenen Identität. Wenn man nur sieht, was man weiß, dieses Wissen aber lückenhaft oder von Vorurteilen besetzt ist, was dann? „Dann sieht man nur noch, was man zu wissen vermeint, vermutet – oder sehen will“, sagt Korn.
Islamfeindlichkeit in der Literatur, der Geschichte, den Medien, Islamverherrlichung im HipHop, unter deutschen Imamen, im Internet, aber auch grundsätzliche politische und theologische Diskussionen finden Platz in diesem erstaunlichen Sammelband, der kaum ein Thema unbeachtet lässt. Gerade auch die Aufsätze über die Hintergründe der Religion Islam als auch muslimischer Traditionen und Staatsformen sind von unschätzbarem Wert. Denn genau der Mangel an diesem Wissen ist es, der einer offenen Diskussion oftmals im Wege steht. Das Schlüsselwort ist hier Verständnis – wo kommt mein Gegenüber her, was sind seine Hintergründe, wo liegen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen uns? Überzeugend und informativ ist nicht nur der Beitrag von Reformer und Theologe Nasr Hamid Abu Zayd, der die Entstehung von verschiedener Ausprägungen des Islam darlegt – und auch wie der Glaube an die Unfehlbarkeit heiliger Schriften zur Gewissheit der eigenen Auslegung als einzig richtiger werden kann.
Auch vor den populistischen Auswüchsen der Integrationsdebatte schrecken „Islamkritik“ und „Islamverherrlichung“ nicht zurück. Hervorzuheben sei dabei der Beitrag des Herausgebers im erstgenannten Band. Sprachlos liest man dort nicht nur von den bekannten Stilblüten selbstberufener Islamkritiker. Zwar vergisst der Herausgeber mit seinem rigiden Urteil, dass auch eine Polemik ein gelungenes Mittel sein kann, um festgefahrene Diskussionen fruchtbar zu machen und auf Missstände hinzuweisen. In seiner detailreichen Analyse deckt er jedoch auf, wie kenntnisarm und selbstbezogen die Debatten von Kelek, Broder und Co. geführt werden und wie wenig sie letztlich mit journalistischer Streitkultur gemein haben.
Die Diskussion von ideologischem Ballast zu befreien, ist das Ziel des Herausgebers und der mitwirkenden Autoren. Mit ihrem „Plädoyer zum Einzug der Vernunft“ in die Integrationsdebatte haben sie genau das geschafft. Der Doppelband vermittelt nicht nur das so dringend notwendige Hintergrundwissen, sondern vollzieht auch einzelne Debatten nach und entkräftet viele der Argumente – gerade solche, die immer wieder wiederholt werden, ohne eigentlich in die Tiefe zu gehen. Dabei entlarven die beiden Bände mehr als das Märchen von den muslimischen Schwimmunterricht-Verweigerern. Sie zeigen, dass nach vielen Missverständnissen eine echte, fundierte Debatte zwischen den Menschen unerlässlich ist – und gerade erst begonnen hat.