15.09.2011
Fachgespräch in Bad Boll zu Amokläufen und Gewaltprävention
„Taten – Täter – Prävention“
Die Tat wird in der Regel von einem Mann begangen. Er ist zwischen 14 und 25 Jahren alt, nicht selten ein eher durchschnittlicher Schüler und still. Lange weist nichts darauf hin, dass das passieren kann, was am 11. März 2009 um 09.30 Uhr in Winnenden geschah.Gut zwei Jahre nach dem Amoklauf in Baden-Württemberg kamen am 5. September 2011 Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Polizei, Kirchen und Verbänden in der, zusammen mit dem Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden einladenden Akademie Bad Boll, zusammen. Das Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt (BfDT), welches sich zuletzt im Dezember 2010 als Kooperationspartner des Präventionsfachtags „Gemeinsam gegen Gewalt - Rems-Murr-Kreis im Dialog" in Winnenden engagierte, war auch vor Ort vertreten.
Der Begriff „Amok“ suggeriert, so Dr. Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Universität Giessen, eine plötzliche, unvorhersehbare Tat. Doch ist die Assoziation mit diesem Begriff irreführend, denn die Gewaltakte sind oft lang im Vorhinein geplant. Dies ist nur eine der Stolperfallen, auf die man bei der Auseinandersetzung mit diesem schwer nachvollziehbaren Thema treffen kann. So erläuterten sowohl Bannenberg als auch der Freiburger Professor Joachim Bauer, dass die Täter in alltäglichen Konflikten selten spontan mit Gewalt reagierten, sondern emotionale Reaktionen auf erfahrene Demütigungen, die aufgrund einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung als deutlich intensiver erlebt werden können, über Jahre hinweg zurückhalten und nicht selten zunächst in Hass- und Gewaltfantasien ausleben. Aber auch soziale Ausgrenzungserfahrungen würden von diesen Kindern und Jugendlichen deutlich intensiver wahrgenommen. Bauer stellte den anwesenden Zuhörern Experimente und Studien vor, die klar belegen konnten, dass Ausgrenzung als körperlich empfundene Qual wahrgenommen wird. So sind bei Ausgrenzungserfahrungen, die „sozialen Schmerz“ auslösen, die gleichen Hirnareale aktiv, die auch bei physischem Schmerz eine Rolle spielen. Die menschlichen Schmerzsysteme reagieren also bei in jeder sozialen Ausgrenzungssituation. „Kinder“, so Bauer weiter, „ohne zuverlässige Bindungen in ihren Herkunftsmilieus leben im Zustand permanenter Ausgrenzung und haben ein massiv erhöhtes Risiko, Gewaltverhalten zu entwickeln“. Deshalb lautet auch ein Fazit des Wissenschaftlers, dass so genannte „Aggressionsflüsterer“ zum Teil versteckte, zum Teil aber auch offensichtliche Aggressionsherde an den Schulen thematisieren müssten, um langfristig konfliktlösend zu wirken.
Einige der Teilnehmer wiesen auf die subjektiv wahrgenommene Steigerung von Gewalttaten hin und sahen hier eine stark beeinflussende Rolle in bestimmten Faktoren wie Medien, soziale Armut oder der Schule. So sei letztere für viele Kinder und Jugendlichen zu einem quasi totalen System geworden, das nicht nur einen Großteil des Alltags bestimmt, sondern in zunehmendem Maße auch die Wege für die Zukunft festlegt. Der Versagensdruck wird größer und nicht wenige versuchen Ängste und Aggressionen auf anderem Wege abzubauen. Professor Dr. Dr. Manfred Spitzer vom Transferzentrum für Neurowissenschaft und Lernen aus Ulm griff diesen Aspekt auf und verwies insbesondere auf die Rolle von Gewaltfilmen und – videos. In zugespitzten Thesen distanzierte er sich deutlich von der zu positivistischen Sicht auf und Nutzung von Medien in Form von Schulcomputern, Spielkonsolen oder frühkindlichen Medienprogrammen. Seine Studien belegten hier deutlich nachteilige Veränderungen in den neurobiologischen Strukturen der Kinder und Jugendlichen.
Das Fachgespräch in Bad Boll zeigte einmal mehr, wie viele unterschiedliche Faktoren eine Gewalttat bestimmen können. Monokausale Erklärungsansätze werden der Thematik in keinster Weise gerecht. Die Prävention von Gewalttaten beginnt schon im Kleinen, beim aufmerksamen Nachbarn, Familienmitglied oder Schulkameraden. Im Großen kann sie nicht allein von staatlichen Instanzen getragen werden – sie ist angewiesen auf das Engagement, das Wissen, die lokale Verwurzelung und das Gespür zivilgesellschaftlicher Akteure.