19.08.2011
Aus der Geschichte für die Zukunft lernen
Jugendgedenkreise nach Krakau und Auschwitz vom 30.07. bis 4.08.2011



25 junge Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren nahmen an der Jugendreise teil. Viele von ihnen gehören der Enkel- und Urenkelgeneration der verfolgten Sinti und Roma an, die anderen kamen aus der so genannten Mehrheitsgesellschaft. Aus allen Regionen Deutschlands kamen Studenten, Azubis, Berufstätige und Schüler zusammen, um Vorurteile abzubauen und das Wissen um die Diskriminierung, Verfolgung und massenhafte Ermordung der Minderheit der Sinti und Roma während der Zeit des Nationalsozialismus auch in der Mehrheitsgesellschaft nachhaltig zu verankern. Zugleich sollte das Programm und Workshopangebot während der Reise zu eigenem Engagement gegen Ausgrenzung und Intoleranz anregen. Für die Teilnehmer wurde die Fahrt und Begegnung zu einer ganz besonderen Erfahrung.
Ihre Motive, sich auf diese Reise zu begeben waren dabei sehr unterschiedlich: Die jungen Sinti und Roma verbanden damit ein starkes persönliches Anliegen. Jeder von ihnen hatte Angehörige, zumeist Urgroßeltern oder Großeltern, die in Auschwitz oder anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern ihr Leben verloren. Mit der Gedenkreise wollten sie sich auf die Spuren der eigenen Geschichte begeben und die Traumata verstehen, die ihre Volksgruppe bis heute verfolgen. Die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft wollten diese Begegnung nutzen, um ihr Wissen über den Völkermord zu erweitern und Sinti und Roma unmittelbar kennenzulernen. „Bevor ich hierher gekommen bin, wusste ich fast nichts über Sinti und Roma“, erzählte eine Schülerin. „Das einzige, was ich mit ihnen verbunden habe, waren Klischees und Vorurteile. Natürlich wusste ich, dass sie nicht stimmen werden, aber ein anderes Wissen hatte ich nicht!“
Zunächst stand für die Jugendlichen am 31. Juli eine Stadtführung durch das jüdische Viertel von Krakau und ein Besuch des in 2010 neu eröffneten Museums in der Oscar-Schindler-Fabrik auf dem Programm. Am 1. August fuhr die Delegation dann erstmals in die Gedenkstätte Auschwitz II (Birkenau) und traf dort zu einer ersten Gedenkzeremonie mit der Delegation der Überlebenden und ihren Angehörigen zusammen, die mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma nach Krakau gereist war. Am Gedenkstein neben dem Krematorium V, wo ein Großteil der am 2. August 1944 im sogenannten „Zigeunerlager“ festgehaltenen 2900 Menschen ermordet wurde, legten die Delegationen ihre Kränze und Kerzen nieder. Neben Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, und Roman Kwiatkowski, dem Vorsitzenden der polnischen Roma sprach auch Dr. Gregor Rosenthal, Leiter der Geschäftsstelle des BfDT, zu den Anwesenden. Er betonte die große Ehre, als Angehöriger des Tätervolkes an diesem Ort zu den Überlebenden sprechen zu dürfen und unterstrich die Verantwortung, die auch heute noch jeder von uns trage, damit dieser Tiefpunkt in der Geschichte der Menschheit sich niemals wiederholen möge. Den Überlebenden sprach er seinen großen Respekt aus, den Mut aufzubringen, an diesen Ort des Schreckens zurückzukehren und ihre Erfahrungen an junge Menschen weiterzugeben: „Die Geschichte der Verfolgung der Sinti und Roma ist unser aller Geschichte und geht jeden etwas an. Wir können die Lehren der Vergangenheit nutzen, um eine gemeinsame, bessere Zukunft zu gestalten“, so Rosenthal.
Im Anschluss an die Zeremonie fuhren die Delegationen in das „Stammlager“ der Gedenkstätte Auschwitz I, legten Kränze an der Schwarzen Wand nieder und besuchten die ständige Ausstellung über das Schicksal der Sinti und Roma im Block 13. Hier trafen die Jugendlichen erstmals unmittelbar auf die Überlebenden und hatten Gelegenheit, sich von ihnen durch die Ausstellung führen zu lassen. Vor allem die Auschwitz-Überlebenden Franz Rosenbach und Mano Höllenreiner, die beide als Jungen in Auschwitz-Birkenau und weiteren KZs festgehalten wurden, berichteten von ihrem Leben im Lager. Jugendliche und Erwachsene hörten gebannt zu und waren tief betroffen von den unvorstellbaren Ereignissen und Misshandlungen, die sie im Alter von nur fünfzehn und neun Jahren erlebten. Beide Überlebenden betonten immer wieder, wie wichtig es auch heute noch sei, sich zu erinnern aber sich auch für die Zukunft stark zu machen: „Ihr müsst etwas lernen, einen guten Beruf haben, etwas aus euch machen und euch engagieren!“, betonte Mano Höllenreiner immer wieder. Er selbst und viele seiner Leidensgenossen hätten dazu kaum Gelegenheit gehabt, weil sie nach dem Krieg und der Verfolgung völlig mittellos waren. Auf Entschädigung und besondere Förderung warteten sie vergeblich – ein Zustand, der leider bis heute für viele Angehörige der Sinti und Roma fortbestehe. Umso wichtiger sei es, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Alle Jugendlichen waren nach dem Gespräch mit den Überlebenden tief beeindruckt. „Es ist unfassbar, was sie durchgemacht haben“, erklärte ein Teilnehmer. „Auch wenn man schon über den Holocaust und die Situation in den KZs gelesen hat - durch das Gespräch mit den Zeitzeugen wird das alles viel realer und greifbarer.“
Am 2. August nahm die Jugenddelegation dann an der offiziellen Gedenkzeremonie zum Internationalen Roma-Gedenktag in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau teil. Ansprachen wurden u.a. durch den Auschwitz-Überlebenden Mano Höllenreiner sowie durch polnische Politiker und Botschafter Israels und der USA gehalten. Anschließend lud das deutsche Konsulat zu einem Empfang in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte ein. Die tiefgehenden und erschütternden Einblicke in die Lebenssituation der in Auschwitz festgehaltenen Häftlinge und in die Mordmaschinerie des Vernichtungslagers, welche die Jugendlichen bei Führungen durch die Gedenkstätte und den Zeitzeugengesprächen erhielten, führten zu einem großen Zusammenhalt in der Gruppe. Immer wieder diskutierten einzelne Teilnehmer im Bus oder in der Unterkunft über die Lage der Häftlinge im KZ, über Schuld und die Konsequenzen, die wir heute daraus ziehen sollten.
Am 3. August hieß es für die Jugendlichen dann, sich aktiv in die inhaltlichen Workshops einzubringen. In der Internationalen Jugendbegegnungsstätte nahmen sie an dem Workshop „Antiziganismus gestern und heute“ teil, der von Markus End, Antiziganismus-Experte am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU-Berlin, geleitet wurde. Hier lernten sie die historischen Hintergründe der jahrhundertealten Diskriminierung von Sinti und Roma kennen. Zugleich nahmen sie aktuelle Ereignisse in verschiedenen Ländern Europas in den Blick und untersuchten die gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Mechanismen, die zu Ausgrenzung und Vorurteilen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft führen. In interaktiven Spielen wurde veranschaulicht, wie Ausgrenzung entsteht und wie man selbst dagegen vorgehen kann. Praxisnah war auch der zweite Workshop des Kommunikationstrainers und Theaterregisseurs Bernhard Gaudian. Er machte die Jugendlichen fit gegen Diskriminierung und Rassismus, indem er ihnen rhetorische Kniffe und Methoden zeigte, wie sie sich gegen diskriminierende Polemik wehren können. Das Argumentationstraining fand in Form verschiedener praktischer Übungen statt. Nach anfänglicher Scheu, vor der Gruppe zu sprechen, wurden die Teilnehmer immer mutiger und konnten die Argumente des „Aggressors“ im Rollenspiel immer besser entkräften. Genau dies war das Ziel des Workshops, zumal die meisten der Teilnehmer angaben, schon mindestens einmal in eine Situation geraten zu sein, in der Zivilcourage gefragt war. Insbesondere die jungen Angehörigen der Sinti und Roma erlebten Diskriminierung bereits oft persönlich.
Am Ende des Tages bedauerten alle Teilnehmer, am kommenden Morgen bereits die Rückreise antreten zu müssen. „Gerade jetzt, da wir uns alle richtig kennengelernt haben, wäre es toll, wenn man die gemeinsam gemachten Eindrücke noch weiter besprechen könnte“, fasste eine Teilnehmerin die Stimmung zusammen. Aus diesem Grund wird es voraussichtlich bereits in wenigen Wochen ein Nachbereitungstreffen beim Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg geben, zu dem alle Teilnehmer eingeladen sind. In Gesprächsrunden werden die Jugendlichen aus ganz Deutschland Gelegenheit haben, ihre Eindrücke während der Reise nach Krakau und Auschwitz zu reflektieren und weitere Möglichkeiten zu erarbeiten, wie sich jeder Einzelne gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus in seiner Region engagieren kann.
