20.01.2011

„…ob man über Hitler überhaupt lachen darf.“

Interview mit Oberspielleiterin Annett Wöhlert

Foto: Anett Wöhlert (Jörg Metzner/Landestheater Neustrelitz)Foto: Anett Wöhlert (Jörg Metzner/Landestheater Neustrelitz)
Foto: Szene aus "Mein Kampf" von George Tabori (Peter Himsel/Landestheater Neustrelitz)
Eine Farce über Hitler – darf man das? Am Landestheater Neustrelitz wurde „Mein Kampf“ von George Tabori wieder aufgenommen. Gründe dafür gibt es viele. Oberspielleiterin Schauspiel Annett Wöhlert über Zivilcourage, jugendliche Neugier und ernsthafte Glücksfälle.

Liebe Frau Wöhlert, was geschieht in „Mein Kampf“ von George Tabori?

Wien, Winter um das Jahr 1910...der junge Adolf Hitler kracht in ein Obdachlosenasyl, in dem der jüdische Buchhändler Schlomo Herzl und der „kaputte Koscher-Koch“ Lobkowitz hausen. Er „hasse alles Runde, die Juden und die Radfahrer“, und er will „die Welt, die Ganze“, krächzt er. Dreist und unberechenbar okkupiert er das Asyl und die beiden Männer. Lobkowitz, der sich als „Gott“ ausgibt, flieht aus dem Asyl, aber Schlomo hängt sein Leben an den irrwitzigen Glauben, Hitler durch Liebe bekehren zu können. Am Ende steht er vor seinem bitteren Irrtum, dass „manche Menschen Liebe nicht ertragen können“. Es ist ein absurdes Paradox, ein Witz und eine Katastrophe, ein verrückter Eingriff in die Geschichte, eine Farce.

Vor welchem Hintergrund haben Sie sich für dieses Stück entschieden?

Wir leben hier in einer Region, in der 14% arbeitslos sind und zwischen 7 und 15% NPD wählen. Es ist eine Gegend, die sich selbst als „Dünnsiedlerregion“ bezeichnet, in der die aggressiven „Ordnungsversprechen“ der rechtsextremen Stimmen suchen, was bei gleichzeitiger Mobilisierung der demokratischen Kräfte für Sprengstoff sorgt.

Wir haben im Theater eine Aufführungsreihe initiiert, innerhalb derer wir uns an einem besonderen Aufführungsort - dem Marstall in Neustrelitz - Themen der deutschen Vergangenheit und Gegenwart kritisch zuwenden. Wir im Theater haben die Utopie, solange wir diese Stücke auf unserer Bühne umsetzen, solange ermutigen wir auch unsere Zuschauer sich einzumischen, wenn Vernunft durch Hass verdrängt wird.

Was macht das Stück besonders?

Die Besonderheit und die Herausforderung des Stoffes liegt für mich in seiner Balance zwischen Respekt und großer Empfindsamkeit gegenüber den Opfern und andererseits der heiteren Respektlosigkeit der deutschen Erinnerungskultur gegenüber, die die Geschichte oft eher konserviert, als sie lebendig und sinnlich erlebbar zu machen. Also war die Frage, wie macht man das sinnlich, wie vermittelt man Neugier und Interesse an Widersprüchen in der Geschichte, wie schafft man es, gerade junge Leute tatsächlich für Schicksale, Biographien, für die Komplexität der Täter-Opfer-Schemata sensibel zu machen.

Hitler wird in meiner Inszenierung von einer Frau gespielt. Das ermöglichte uns, von vornherein der Nachahmung zu entkommen, ohne sie ganz zu vernachlässigen. Es hat ausgelöst, dass auch die Zuschauer Hitler nicht als einen einmaligen Ausnahmefall in die Vergangenheit zurückschieben, sondern ihre eigene Gegenwart untersuchen, Prozesse wahrnehmen, in denen Ausgrenzung und Intoleranz wachsen, Zivilcourage verhindert wird, Angst vor dem Fremden in Gewalt gegenüber Minderheiten umschlägt.

Wieso haben Sie sich jetzt für eine Wiederaufnahme des Stücks entschieden?

Die gesellschaftlichen Anlässe, die 2005 zur Entscheidung geführt haben, „Mein Kampf“ aufzuführen, haben sich nicht geändert. Die NPD sitzt inzwischen im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, im Herbst dieses Jahres droht ihr Wiedereinzug ins Parlament. Da braucht es ein gesellschaftliches Klima, das einen offensiven Umgang mit den Zielen und Gefahren des Rechtsextremismus fördert, Zivilcourage präferiert, und das eben auch mit den Mitteln des Theaters.

Wie sind die Publikumsreaktionen auf das Stück? Gibt es auch Kooperationen mit Schulklassen oder anderen Partnern?

Wir finden im Zuschauerraum eine Mischung aus gespannter Aufmerksamkeit gepaart mit einem befreienden Lachen, nachdem die Hürde genommen ist, ob man über Hitler überhaupt lachen darf. Das Lachen entkrampft und macht Berührung möglich. Die Inszenierung ist auf ein auch für uns überraschend großes Interesse beim Publikum gestoßen. Gerade Jugendliche suchen eine lebendige Sicht auf Geschichte, die Tabori ihnen in seinem Stoff ermöglicht, weil er über Menschen und Abgründe schreibt, nicht über in die Städte gesetzte Denkmäler.

Wir haben das Stück bisher 35 Mal gespielt, ein Drittel der Vorstellungen vor Jugendlichen. Im Anschluss an die Vorstellungen bieten wir Zuschauergespräche an, gern auch mit eingeladenen Experten wie Historikern, Journalisten, dem Landesrabbiner. Oder wir gehen zu Nachgesprächen in die Schulen. Die Diskussionen sind inhaltlich spannend für beide Seiten. Aus der Direktheit der jungen Menschen lässt sich viel lernen.

Es gibt aber auch für uns erschütternde Situationen, wenn uns z.B. Schüler erzählen, dass das Thema „Nationalsozialismus“ auch schon mal aus ihrem Unterricht ausgespart oder nur kurz „überflogen“ wird. Das Bedürfnis der jungen Leute ist groß, sich darüber mit uns auszutauschen, was sie selbst tun können, wenn die NPD an ihrer Schule die „Schulhof-CDs“ verschenkt oder in der eigenen Klasse Ausgrenzung, Intoleranz, Fremdenhass und Zivilcourage zum Thema werden. Als die Inszenierung 2005 zum ersten Mal in Neustrelitz und Neubrandenburg lief, spielten Neustrelitzer Schüler in kleineren Rollen mit und waren plötzlich ganz unmittelbar selber mit dem Problem beschäftigt: Würde ich blindlings folgen, wenn mir im Gegenzug für Gewalt Macht und Einfluss versprochen wird?

Verbinden Sie mit dem Stück auch einen gesellschaftlichen Auftrag oder persönliches Engagement? Was kann Theater dazu beitragen?

Der gesellschaftliche Auftrag des Theaters ist auch, Widersprüche und Konflikte in der Gesellschaft aufzugreifen und spielerisch in Bewegung zu setzen, die Welt als eine veränderbare zu begreifen, mit Phantasie und Kühnheit Gestaltungsräume aufzuzeigen. Es will berühren, Neugier entfachen, Fragen provozieren, ermutigen, spielen. Wenn das – wie in dieser aufregenden Arbeit an Taboris Stück – mit dem persönlichen Engagement zusammentrifft, ist es ein ernsthafter Glücksfall.

Mehr Informationen unter Interner Linkwww.theater-und-orchester.de. Aktuelle thematische Aufführungen des Landestheaters Neustrelitz finden Sie in Kürze auch in unserem Interner LinkVeranstaltungskalender.


Interner LinkHomepage Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz