20.07.2010

Geschichte hautnah im Schulmuseum Leipzig

Kinder in Uniform

Cover: Kinder in Uniform
Foto: Klassenzimmer um 1900 (Schulmuseum Leipzig)Foto: Klassenzimmer um 1900 (Schulmuseum Leipzig)
Foto: Rollenspiel "Heimatkundeunterricht um 1985" (Schulmuseum Leipzig)
Schiefertafeln auf zerschlissenen Bänken, Abakus, Tintenfass auf dem Lehrerpult – man kann den Geruch vergangener Zeiten nahezu wittern, der durch den historischen Klassenraum im Schulmuseum Leipzig zieht. Das Klassenzimmer einer Volksschule um 1900 ist eine von mehreren detailgetreuen Nachbildungen, die das Gebäude des Schulmuseums beherbergt. Jeden Werktag hat das Museum geöffnet, das sich aber nicht nur als reinen Ausstellungsort versteht.

Denn der Beiname des Museums ist der vielsagende Titel „Werkstatt für Schulgeschichte“. Klassen und kleine wie große Interessierte können in Leipzig einiges erleben. Die nachgebauten Klassenzimmer können nicht nur besichtigt werden: Hier werden die Besucher selbst zu Schülern, können am Pult Platz nehmen und sich in verschiedene Epochen der deutschen Schulgeschichte versetzen. Im Raum der Polytechnischen Oberschule um 1985 können sie sogar an einer „echten“ Unterrichtsstunde im Fach Heimatkunde teilnehmen. Die Museumsbesucher drücken im historischen Klassenzimmer für eine Stunde wieder die Schulbank und werden selbst zu Schülern, die vom Pauker – einem Museumsmitarbeiter – belehrt werden. Irgendwann während des Rollenspiels fordert ein Nichtpionier die „Schüler“ dann zu mehr Zivilcourage auf. Bei manchem werden dabei wohl Erinnerungen wach, die Jüngeren erleben hautnah, wie es damals gewesen sein könnte – auf welcher Seite hätte man selbst gestanden?

Das Anliegen des Schulmuseums ist es, über die Entwicklung der verschiedenen Schulformen zu informieren und sie lebensnah zu präsentieren. Kein „totes Museum, sondern eine Anstalt, in der geforscht und gelehrt wird, in der also die angesammelten Schätze in lebendiger Weise nutzbar gemacht werden“, will die Werkstatt sein, wie es schon im Protokoll der Versammlung zur Gründung eines Leipziger Schulmuseums von 1914 heißt. Ähnlich wie der Charakter deutscher Schulen hat auch das Museum einige Wandlungen durchgemacht. Am heutigen Standort und mit dem derzeitigen Konzept wurde es erst 2000 wiedereröffnet. Das pädagogische Prinzip des entdeckenden und forschenden Lehrens ist heute wieder wichtig für das Museum. Multimediale Exponate, Workshops, Publikationen, Rollen- und Aktionsspiele und Vorträge, auch außerhalb der Werkstatt selbst, machen die Arbeit des Museums attraktiv für Geschichtsbegeisterte. Manchmal finden sogar Klassentreffen früherer Schülergenerationen statt, die ehemaligen Klassenkameraden begegnen hier einem besonders authentischen Rahmen, der die Vergangenheit wieder lebendig macht.

Wichtig für das Museum ist vor allem die gesellschaftliche Dimension der historischen Arbeit. Mit dem starken praktischen Einbezug der Besucher und der Bereitstellung von Material und Informationen für Schulklassen will die Werkstatt zum Nachdenken und zur Auseinandersetzung anregen. Denn Bildungsstätten gehören zu den bedeutendsten Einrichtungen eines Staates. Ihre Funktion und ihre Ausgestaltung sagen viel aus über die Verfasstheit eines Landes. Deshalb legen die Mitarbeiter des Museums besonderen Wert darauf, ihren Ausstellungen diese kulturelle, politische und anthropologische Ebene mit einzugeben. Bei der Ausstellung „Kinder in Uniform“ werden zum Beispiel die nationalsozialistische und die SED-Diktatur direkt gegenübergestellt. Anhand verschiedener Aspekte wird untersucht, welche ähnlichen Motive sie verbinden: Trommeln, Uniformen, Wandern, Singen, Heldenverehrung, Fahnenkult, Brand- und Motivationsreden und vieles andere waren für beide wichtige Methoden, Menschen von klein auf an die jeweilige Ideologie zu binden. Das Schulmuseum Leipzig hat dafür nicht nur Beifall geerntet. Kritiker wollten unter anderem nicht den Nationalsozialismus durch den Vergleich verharmlost sehen. „Wir vergleichen ja nicht die Ideologien und auch nicht die Verbrechen“, sagt Elke Urban, Leiterin des Schulmuseums, zu den Vorwürfen. „Sondern wir vergleichen die Staatsjugend – die Strukturen, die Mechanismen, die funktioniert haben, in beiden Hierarchien. Denn beides waren hierarchische Systeme.“

In der Publikation „Kinder in Uniform – Generationen im Gespräch über Kindheit und Jugend in zwei deutschen Diktaturen“ wurde die Vorarbeit zur Ausstellung festgehalten. Darin finden sich 29 Interviews mit Zeitzeugen, die über ihre Schulzeit berichten. Das Besondere: Die Interviewer sind keine Journalisten oder Historiker, die Befragten sind keine Fremden. Sechzehn sächsische Schüler und Studenten haben ihre Großeltern und Eltern nach ihren Erfahrungen in den Massenorganisationen des Nationalsozialismus und der DDR gefragt. Herausgekommen ist ein Buch, das informiert, ohne belehrend zu sein, und das wichtiges historisches Material liefert, ohne die menschliche Seite außer Acht zu lassen. Wir erfahren zum Beispiel von Dr. Wolfgang Renner, wie es war, in einer Bewegung organisiert zu sein und plötzlich ein, wenn auch künstliches, Gemeinschaftsgefühl zu erleben. Oder von der Vorfreude, mit der viele Kinder zum Pionierlager gefahren sind, wie Brigitte Pretzsch sich erinnert. Seltsam naiv hören sich viele der Berichte an. Die Befragten machen das Damals zum Jetzt und beschreiben das Geschehen oft mit den Augen des Kindes, das sie einmal waren. Raum für Reflexion und nachträgliche Einordnungen ist eher selten. Gerade dadurch machen die Interviews aber deutlich, wie perfide Diktaturen schon bei den Jüngsten ansetzen, um sie für ihre Überzeugungen zu gewinnen, und wie offen ein junger Verstand auf alles Neue zugeht, ohne dessen Tragweite begreifen zu können. Die jugendlichen Autoren haben nicht nur einen wertvollen Beitrag zur Auseinandersetzung mit diesen Abschnitten deutscher Geschichte geliefert, der sicher in Zukunft noch vielen für Recherchen, wissenschaftliche Arbeiten oder bei persönlichem Interesse von Nutzen sein wird. Sie haben sich auch individuell mit diesem Thema beschäftigt, wertvolle Kenntnisse erworben und vielleicht auch kommunikative Barrieren und familiäre Tabus durchbrochen.

Diese Rechnung geht auf. Mit der Verbindung von wissenschaftlichem Ansatz, gesellschaftlicher Deutung und praktischem Zugang, wie sie auch bei „Kinder in Uniform“ gelungen ist, schafft es das Museum, Geschichte in all ihren Facetten erlebbar zu machen und vom Dunst der Archive zu befreien.


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