25.08.2016
"Wir wollen dafür sorgen, dass diese humanitäre Katastrophe im Fokus der Öffentlichkeit bleibt"
Interview mit Kapitän Ingo Werth
Im Mai 2015 wurde der Verein Sea-Watch e.V. auf Initiative von Freiwilligen um Harald Höppner gegründet, um mit einem kleinen, eigens dafür angeschafften Seenotrettungsschiff in Seenot geratenen Geflüchteten zu helfen. Als die über 100 Jahre alte „Sea-Watch 1“ zu ihrer ersten Rettungsfahrt von Hamburg zur lybischen Küste aufbrach, leitete Ingo Werth das Schiff für zwei Wochen als Kapitän. An der Not vor Ort hat sich bisher nicht viel geändert. Neben seinem vorbildlichen Einsatz für Geflüchtete, auch in seiner Heimatstadt Hamburg, ist Ingo Werth heute Einsatzleiter der „Sea-Watch 2“, einem größeren Schiff der privaten Hilfsorganisation auf der Suche nach Menschen, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.Wie kamen Sie dazu, Kapitän der ersten „Sea-Watch“ zu werden?
Ich befand mich im März 2015 auf einem Segelschiff in Griechenland und las bei Spiegel Online von dem Projekt Sea-Watch. Da ich seit längerer Zeit aktiv Flüchtlingsarbeit in Hamburg betreibe, dem Wasser mehr als verbunden bin und die Situation auf dem Mittelmeer unerträglich finde, habe ich mich in das Projekt eingereiht. Schnell wuchs die Aufgabe zu einer fast tagesfüllenden Beschäftigung.
Was sind die Zielsetzungen des Vereins und was konnten Sie bisher erreichen?
Die Zielsetzung war und ist Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten und dafür zu kämpfen, dass es legale Einreisewege für Flüchtende nach Europa gibt. Die Crews der „Sea Watch 1 & 2“ konnten bisher über 17.000 Menschen, die sich auf der Flucht vor Krieg, Hunger, Vertreibung, Vergewaltigung und Verelendung befinden, helfen zu überleben. Wir wollen dafür sorgen, dass diese humanitäre Katastrophe im Fokus der Öffentlichkeit bleibt, dass die Lebenden und Verstorbenen nicht einfach aus dem Kopf und dem Gewissen der europäischen Bevölkerung verschwinden.
Als Kapitän ist man hautnah bei den Rettungsaktionen dabei. Wie muss man sich die Situation und den Ablauf der Rettungsaktion vorstellen? Wie ist der Zustand der Geflüchteten und ihrer Boote?
Wir nähern uns nach dem Entdecken eines Bootes mit einem unserer Schnellboote an und umkreisen das Flüchtlingsboot zwei bis drei Mal. Wir stellen uns vor, bauen Vertrauen auf, berichten den Menschen, dass wir uns ab jetzt um sie kümmern, sie nicht mehr alleine lassen und sie mit Rettungswesten versorgen werden. Wir verschaffen uns einen Überblick wie viele Menschen an Bord sind, wie viele Frauen und Kinder, Schwangere, Verletzte oder eventuell Tote. Nach dem Verteilen der Westen nehmen wir alle Frauen und Kinder von den Booten, um sie als erste in Sicherheit zu bringen und um die völlig überfüllten Boote zu erleichtern. Kürzlich haben wir beispielsweise ein Schlauchboot mit 164 Menschen an Bord gefunden und gesichert. Eine unvorstellbare Zahl an Menschen auf vielleicht 12 bis 14 m² Bootsfläche. Wenn ein Boot akut vom Sinken bedroht ist, dann werden alle 120-160 Personen bei uns an Bord genommen. Die Menschen, speziell die Frauen, sind oft in einem entsetzlichem Zustand. Sie berichten von Folter, Vergewaltigung und Versklavung gerade in Libyen. Die Frauen sitzen in den Booten auf den Böden und daher oft in einem Gemisch aus Salzwasser, Treibstoff, Urin, Kot und Erbrochenem. Die Verbrennungen die sie an der Haut davontragen sind verheerend. An Bord der „Sea-Watch 2“ werden unsere Gäste dann medizinisch behandelt und erfahren menschliche Zuwendungen, die sie zum Teil schon über Monate entbehrt haben.
Gibt es einen Moment, der Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Ja, einige brandgefährliche, aber auch wunderschöne Begegnungen mit Menschen an Bord, von denen wir viel lernen können. Es gibt Menschen, die nach dem langen Martyrium, das sie hinter sich haben, immer noch eine derartig liebevolle Zuversicht ausstrahlen und so viel Wärme versprühen, dass wir uns oft fragen, woher sie diese eigentlich noch nehmen.
Nach der „Sea-Watch 2“ kommt nun „Sea-Watch Air“ als erster NGO-Flieger überhaupt?
Ja, der Sea-Watch-Flieger hat seine ersten Einsatztage hinter sich und konnte uns helfen einen Überblick über die Situation vor der Küste zu bekommen und spezielle Boote zu identifizieren.
Wie kann man sich selbst bei Sea-Watch einbringen?
Wir freuen uns über jeden Menschen, der sich mit Ideen und Tatkraft einbringen kann. Das geht von der Veranstaltung von Lesungen, Konzerten, Infoabenden, für die wir auch gerne zur Verfügung stehen, bis zur Bewerbung für Einsätze auf dem Schiff oder praktischer Unterstützungsarbeit in einem der Fachgebiete wie Presse, Medizin, Recht oder sonstigem. Der Kontakt ist über unsere Internetseite möglich. Neuerdings gibt es auch die Möglichkeit der Fördermitgliedschaft, denn ein Projekt wie Sea-Watch braucht, um ehrlich zu sein, die breite Unterstützung durch Spenderinnen und Spender.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir von Herzen, dass die Welt gerechter gestaltet wird, dass nicht mehr Millionen Menschen jährlich auf der Flucht sein müssen, dass die Industriestaaten aufhören die afrikanischen Länder weiter nach ihren Bodenschätzen einzuordnen und ihnen diese dann in Kooperation mit den lokalen Despoten auch noch nehmen. Ich wünsche mir die Einstellung der Bewaffnung von einzelnen Ländern oder Volksgruppen, nur weil sie sich gerade willfährig verhalten und ich wünsche mir legale Einreisewege nach Europa, damit das Massengrab Mittelmeer nicht weiter aufgefüllt wird und die Menschen ein Recht bekommen in Frieden und mit Respekt und Würde zu leben.
Stellen wir uns vor, andere Länder hätten den Deutschen zu Zeiten des zweiten Weltkrieges nicht die Türen zur Flucht geöffnet. Die Zahl der Toten in dieser Zeit wäre nochmals um eine unerträgliche Zahl gestiegen. Gerade hier sind wir gefragt. Ich empfinde es als reines Glück zur richtigen Zeit am richtigen Platz geboren worden zu sein. Ich habe das nicht verdient, verdient in dem Sinne, dass ich etwas dafür getan hätte, nein, ich habe, genauso wie Sie, reines Glück gehabt. Es ist für mich eine Verpflichtung von diesem Glück etwas an Menschen abzugeben, die dieses Glück nicht hatten und seien Sie ehrlich, wir haben noch einiges zu teilen. Es wird Zeit, dass wir nicht nur im wirtschaftlichen Bereich global denken. Gerade im humanitären Bereich ist es alternativlos den Blickwinkel zu erweitern und das Herz und den Verstand zu öffnen.
Für das herausragende Engagement hat das Bündnis für Demokratie und Toleranz (BfDT) Ingo Werth und seine Crew der MS Sea Watch als Botschafter für Demokratie und Toleranz 2016 ausgezeichnet.
Ein Videoportrait über Initiator Harald Höppner finden Sie
