24.10.2011
Von Zuckertüten und Auschwitz. Rezension "Jüdische Schulgeschichten"
Ehemalige Leipziger Schüler erinnern sich
Stundenlange Appelle im Konzentrationslager Auschwitz, das erste Mal eine Leiche zu sehen, die Trauer, sich nie von seiner Mutter verabschiedet zu haben: viele ehemalige Leipziger der jüdischen Carlebach-Schule haben furchtbare Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg gemacht. Einige konnten schon als Kind fliehen und waren seitdem nie wieder in Deutschland.Das Leipziger Schulmuseum möchte diesen ehemaligen Flüchtlingen die Möglichkeit geben, ihre Heimat neu kennen zu lernen: Einmal im Jahr lädt es im Rahmen seiner Ausstellung über die Carlebach-Schule ehemalige Schüler ins Museum und zu Gesprächen ein. Viele von ihnen reisen aus weiten Teilen der Welt an: Israel, Südamerika, den USA oder Australien. Sie kommen, um Leipzig neu kennenzulernen, sich an die Orte ihrer Kindheit zu erinnern und die Geschichte ihres Lebens in Leipzig zu erzählen. 43 ehemalige Schüler der jüdischen Schule hat Elke Urban, Leiterin des Museums, für eine Dokumentation interviewt. Dabei ist auch das Buch "Jüdische Schulgeschichten. Ehemalige Leipziger erzählen" entstanden.
"Jüdische Schulgeschichten" sammelt persönliche Geschichten aus den Zeiten des Holocausts. Die ehemaligen Leipziger erinnern sich nicht nur an Flucht und Verfolgung. Viele geben auch sehr persönliche Anekdoten aus ihrer Jugend preis und helfen damit, das Leipzig der Dreißiger Jahre wieder lebendig werden zu lassen. Seien das Erfahrungen mit Diskriminierung, wie Schlägereien auf dem Schulweg oder Erfahrungen einer noch unbeschwerten Kindheit – durch ihre Erinnerungen zeichnen die Interviewten nicht nur ein Bild des Krieges, sondern vor allen Dingen ein Bild des jüdischen Lebens, das durch den Krieg zerstört wurde. Zahlreiche Angereisten erinnern sich trotz ihres hohen Alters noch der Zuckertüte, die sie zur Einschulung bekamen oder ihrer ersten Liebe.
Viele Erinnerungen sind aber leider auch nicht mehr erhalten – so können die meisten Interviewpartner auf Elke Urbans detaillierte Fragen zur Adresse des ehemaligen Wohnorts oder zu den Namen von Lieblingslehrern nur sehr vage antworten. Dadurch wirken einige Passagen etwas langwierig, zeigen jedoch auch: Wissen über die NS-Diktatur kann schnell verloren gehen. Deswegen sind auch detailgetreue Rekonstruktionen von Namen und Wohnorten, die dem Leipzig unkundigen Leser kaum etwas sagen, historische Zeugnisse.
So vervollständigt sich das Bild der Carlebach-Schule mit jedem Gesprächspartner. Viele schwärmen auch nach Jahrzehnten im Ausland noch von dem guten Unterricht, besonders engagierten Lehrern oder dem Schulgründer und Gemeinderabbiner Dr. phil. Ephraim Carlebach. Aber auch erschreckende Erlebnisse wie die Reichspogramnacht haben sich bei vielen ehemaligen Schülern ins Gedächtnis eingebrannt. In dieser Nacht gingen nicht nur zahlreiche Synagogen, sondern auch die Schule in Flammen auf – "Obwohl wir es nicht ausdrücken konnten, wussten wir alle, dass es jetzt für uns das Ende unserer Kindheit in Deutschland war oder sein würde oder sein musste", erinnert sich Thea Hurst an die Zerstörung ihrer alten Schule.
Einblicke in die Kindheit Leipziger Juden bekommen jedoch nicht nur die Leser der Interviewsammlung; auch für viele der Gesprächspartner ist es das erste Mal seit Jahren, dass sie sich mit ihren frühsten Erinnerungen auseinandersetzten. Viele haben seit Jahrzehnten kein Deutsch mehr gesprochen und waren vor der Einladung ins Museum nicht wieder in Leipzig. Dadurch wirken einige Gespräche etwas ungelenk, doch auch authentisch. Viele erkennen das Leipzig von heute kaum wieder: es wurde so viel renoviert und umgebaut. Dennoch überwiegen bei manchen die traurigen Erinnerungen: "Jedes Mal, wenn ich nach Leipzig fahre, denke ich, da treffe ich doch die oder den. Leider nichts. Für eine Sekunde denke ich vor dem Haus, hier ist doch der Herbert, bis mir dann immer wieder klar wird: Herbert ist nicht mehr da", beschreibt Sani Schächter seine Gefühle beim Stadtrundgang durch die alte Heimat.
Fühlen sich diese ehemaligen Flüchtlinge nach so vielen Jahren noch als Leipziger? Bei einigen ist der sächsische Akzent noch hörbar, andere zählen immer noch intuitiv auf Deutsch und haben die Sprache auch an ihre Kinder weitergegeben. Doch die Gefühle gegenüber der Geburtsstadt sind sehr gemischt: "Ich bin in Leipzig geboren und werde auch ein Leipziger sein bis zum Ende meines Lebens", sagt Kurt Leopold Triebwasser, der inzwischen in England lebt und seine deutsche Geschichte eigentlich am liebsten vergessen würde. Andere erinnern sich vor allem der Ausgrenzung, die sie bereits als Kind erfahren haben, als sie beispielsweise nicht mehr mit den Nachbarsjungen von der HJ spielen durften: "Wir haben nicht richtig zu Leipzig gehört", erinnert sich Thea Hurst, die inzwischen auch in Großbritannien zuhause ist.
Dennoch hat sich die Reise in die Vergangenheit für alle Besucher gelohnt. Viele freuen sich über die Ausstellung im Schulmuseum, in deren Rahmen einige von ihnen auch mit Leipziger Kindern über die NS-Zeit gesprochen haben. "Etwas ist heimatlich, weil ihr alle so nette Leute seid", berichtet Geoffrey Sachs. Und so nehmen viele Besucher ein etwas postiveres Bild von Leipzig mit in ihre neuen Heimaten. Zurüc kbleiben ihre Geschichten und einige Warnungen an die (Leipziger) Jugend, wie zum Beispiel die Lektion, die Thea Hurst aus ihrer Geschichte gezogen hat: "Der Holocaust hat gelehrt, dass man größere Toleranz ausüben muss, dass man keine Vorurteile hat gegen Menschen, die anders denken."
"Jüdische Schulgeschichten. Ehemalige Leipziger erzählen". Herausgegeben vom Schulmuseum – Werkstatt für Schulgeschichte Leipzig e.V.. Passage Verlag Leipzig, 2011. 363 Seiten.
